In meiner Geburtsstadt steht das Leben still

Songül Elmacı in ihrem Geschäft in Wien Favoriten. Foto: Die Presse/Clemens Fabry
Die Community in Österreich ist vom Erdbeben in der Türkei schwer getroffen. Sie versucht zu helfen – und hofft auf humanitäre Visa. Presse: VON DUYGU ÖZKAN

(Artikel erschienen in: Die Presse – Sonntagsausgabe, 19. Februar 2023)

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Das Glück war ja, dass in dieser Nacht kaum jemand geschlafen habe. Die Schwester wachte zum Stillen des Babys auf, die andere Schwester brauchte die halbe Nacht, um ihre unruhigen Kinder zum Schlafen zu bringen, bis die Unruhe sie selbst überkam. Die Schwägerin schlafe immer schlecht, wenn ihr Mann Nachtschicht habe, so auch in diesen Stunden. Die Mutter, gerade erst eine Lungenoperation hinter sich gebracht, ficht ohnehin ihre eigenen Kämpfe mit dem Schlaf. Nur eine Schwester war in Träumen versunken, als das Erdbeben in den Morgenstunden die Wände spalten, den Putz bröckeln, die Möbel umkippen ließ, der gesamten Familie den Boden unter den Füßen wegriss. Draußen regnete es in Strömen.

In Wien blickte Songül Elmacı erstmals gegen acht Uhr morgens auf ihr Handy, die Flut an Nachrichten hörte nicht auf. In der Provinz Kahramanmaraş habe es ein Erdbeben gegeben, schrieb jemand, Freunde und Bekannte schickten Zeitungsartikel und Bilder, auch aus anderen Provinzen wie Adıyaman, wo ihre Familie lebt. Eine Nachricht kam von ihrer Nichte: „Wir leben, uns geht es gut.“ Doch vergewissern konnte sich Elmacı zunächst nicht. Sie rief alle nacheinander an, Mutter, Schwestern, Brüder, Kinder, niemand hob ab. Die Stunden vergingen, aber sie vergingen wie in Zeitlupe. Dann erst der Anruf von ihrer Mutter. Sie stand mit ihrer gesamten Familie, die in Gehweite voneinander wohnte, auf der Straße, alle in ihren Pyjamas, sie sahen fassungslos auf ihre zerstörten Wohnhäuser, die Mutter versuchte sich und ihre Tochter im fernen Wien zu beruhigen. „Sie müssen mir glauben“, sagt Elmacı, ihre Hände knetend, um Fassung ringend, „die Tränen trocknen erst seit heute.“

Songül Elmacıs Geschwister hatten Eigentumswohnungen, jetzt sind sie alle obdachlos.

Das schwere Erdbeben in der Türkei und Nordysrien in den frühen Morgenstunden des 6. Februar hat die Region, das ganze Land, die Diaspora, ja die gesamte Weltöffentlichkeit im Mark getroffen. Von mehr als 40.000 Toten ist auszugehen, von mehr als 85.000 Verletzten, und das gesamte Ausmaß der Katastrophe wird sich erst allmählich zeigen. Verzweiflung vermischt sich mit der Kritik an der türkischen AKP-Regierung über laxe oder nicht vorhandene Kontrollen der Bauvorschriften. Der Verlust von Verwandten, Freunden, Nachbarschaften, ganzen Straßenzügen und Städten hüllt auch die türkischstämmige Gemeinschaft in Österreich in tiefe Trauer.

So war auch in den vergangenen Wochen die Hilfsbereitschaft groß. Zahlreiche Spendenaktionen wurden gestartet, Komitees gegründet, Ideen für langfristige Hilfen gewälzt. Und es wird eine Hoffnung gehegt: Dass vom Beben betroffene Angehörige unkompliziert Visa erhalten für mehrmonatige Aufenthalte in Österreich.

Aus dem Balkon. Songül Elmacıs Schwestern können sich nicht wirklich erklären, wie sie es mit ihren Kindern aus den Hochhäusern geschafft haben. Im Treppenhaus fielen schon Trümmerteile herunter, habe eine Schwester erzählt, die andere konnte die Eingangstür nicht öffnen, da ein Stützpfeiler zusammengebrochen war. Sie stürzten sich schließlich vom Balkon hinunter, ein Glück, sagt Elmacı, „dass sie im ersten Stock wohnte“. Aus dem zweistöckigen Elternhaus retteten sich ihre Eltern auf die Straße, so auch die Schwägerin mit den Kindern, die hier wohnten. Ihre Wohnhäuser brachen zwar nicht zusammen wie andere in der Nachbarschaft, doch bewohnbar sei keine Wohnung mehr, sagt Elmacı.

Ihre gesamte Familie ist obdachlos geworden, mittellos, steckten doch die gesamten Ersparnisse in den Eigentumswohnungen in der einst zentralen und als sicher geltenden Karapınar-Siedlung in Adıyaman. „In meiner Geburtstadt steht das Leben still“, sagt Elmacı, „alles liegt in Trümmern.“

Elmacı sitzt in ihrer kleinen Bäckerei „Etli Ekmek“ im zehnten Wiener Gemeindebezirk. Erst vor zwei Monaten hat sie das Geschäft eröffnet, wo es die dünnenFladen mit Hackfleisch oder Käse zu kaufen gibt. Immer wieder muss sich Elmacı sammeln, fasst sich mit beiden Händen kurz an den Kopf, blickt auf den Boden, zieht die Ärmel ihres schwarzen Rollkragenpullovers über die Finger.

Nach dem Erdbeben habe sie sofort zu ihrer Familienach Adıyaman wollen, erzählt sie, doch sie verwarf die Idee, denn: „Wo hätte ich bleiben können?“ Zwei Schwestern fanden mit den Kindern Unterschlupf in einem Dorf in der Nähe, die anderen übernachteten in Autos auf einem Parkplatz. Erst Tage später kamen die Eltern und die Schwägerin in eine staatlich organisierte Unterkunft im 1000 Kilometer entfernten Aydın. Eine andere Schwester kam bei Verwandten ihres Mannes unter. Die Familie sei auseinandergerissen, tief im Schock, ohne jegliche Perspektive, ohne eine Idee, wie es nun weitergehen könnte.

Wenigstens ihre Eltern wolle sie für drei Monate nach Österreich bringen, sagt Elmacı. Ihre Mutter habe hohen Blutdruck, Diabetes, Lungen- und Leberprobleme, sie mache sich große Sorgen, „meine Geschwister sind momentan nicht in der Lage, auf meine Mutter zu schauen“, sagt sie.

Als Berlin erleichterte Visa-Bedingungen für Erdbebenopfer mit Verwandten in Deutschland in Aussicht stellte, kam diese Frage auch in Österreich auf. Der SPÖ-Bezirksrat aus Wien Favoriten Muhammed Yüksek hat eine parlamentarische Bürgerinitiative für humanitäre Visa für drei bzw. sechs Monate gestartet; Rückhalt erhält er von einigen NGOs wie dem Roten Kreuz und Caritas. Die ÖVP-Regierung zeigt sich jedoch reserviert. „Meine

Die Betroffenen hoffen auf rasche humanitäre Visa für ihre Angehörigen.

Hoffnung“, sagt Yüksek, „sind die Grünen. Sie müssten auf den Koalitionspartner Druck machen.“ Seit Anbeginn seiner Initiative hätten sich Dutzende Betroffene bei ihm gemeldet, während er das sagt, zählt er laut die Nachrichten vom Mittwoch, es sind 25. „Wir reden hier nur von ein paar Monaten Aufenthalt“, sagt der Bezirksrat; die Kosten würden die Angehörigen selbst tragen. Auf seinen offenen Brief zum Thema habe Yüksek bislang noch keine Antwort erhalten.

Kälte in den Knochen. Aus Elbistan ist Ahmet Demirkoca über einen langen Umweg wieder im Burgenland gelandet. Einen Flug von Ankara habe er ergattert, und nach Ankara sei er nur gekommen, weil die Stadt Nevşehir in Zentralanatolien Busse in die Erdbebenregion geschickt habe. So zog sich also der Rückweg hin, von Elbistan nach Nevşehir, von Nevşehir nach Ankara, von Ankara nach Istanbul, von Istanbul nach Wien, von Wien ins  Burgenland. Die ganze Strecke, und auch in den ersten Tagen nach seiner Ankunft, sei er diese Kälte nicht losgeworden, sagt Demirkoca. Die Kälte, die in der Nacht nach dem Erdbeben bis in seine Knochen gekrochen sei, um sich dort anzuhaften.

Für eine Woche war Demirkoca mit seinem Schwager nach Elbistan gereist. Hier sei das erste Erdbeben  am Morgen noch vergleichsweise leicht gewesen, erinnert er sich zurück, man sei zwar nach draußen gestürmt, habe sich aber in der lokalen Bäckerei aufwärmen können, habe abgewartet, und nachdem offizielle Warnungen oder Ankündigungen ausblieben, sei man in die Wohnungen zurückgekehrt. Nur um  später von einem noch stärkeren Beben überrascht zu werden. „Die Wohnung meiner Familie ist ebenerdig“, sagt Demirkoca. Die fünf Erwachsenen schnappten sich die fünf Kinder und warfen sich auf die Straße, sahen dort zu, wie die Hochhäuser der Nachbarschaft umfielen als wären sie Dominosteine. Orientierungslos standen sie stundenlang in den Staubwolken, riefen abwechselnd die Polizei, die Feuerwehr, die Stadtverwaltung an, ohne jedoch eine Antwort zu erhalten.

Die Behörden haben das Haus als sicher eingestuft, aber niemand will zurück.

Warum seien über die Lautsprecher der Moscheen keine Aufrufe erfolgt, fragt sich Demirkoca heute; Aufrufe, sich beim Sportplatz zu versammeln. Die Hilfe zu koordinieren. Überhaupt, die Hilfe: Zwei, drei Tage seien die Einwohner Elbistans auf sich allein gestellt gewesen, ehe die Helfer der Behörden kamen. Wenn unter den Trümmern noch Lebende waren, ist Demirkoca überzeugt, „dann hat sie die Kälte geholt“.

Die Stadt Elbistan, so groß wie Salzburg, liegt ebenfalls in Trümmern. Drohnenbilder des staatlichen Senders TRT zeigen Schutthaufen, die einmal Wohnzimmer waren, Küchen, Schlafzimmer, die erste Wohnung junger Menschen, die Wohnung für die Pensionsjahre. Zumindest das Hochhaus seiner Familie sei nicht zusammengefallen, erzählt Demirkoca. Mehr noch: Die Behörden hätten das Haus wenige Tage nach dem Beben als sicher eingestuft, die Familie könne zurück.

Doch wer traut in Tagen wie diesen der Sicherheitsprüfung der Behörden? „Die Kinder haben die Wohnung schreiend und im Schock verlassen,“ sagt Demirkoca, „wie sollen sie da wieder wohnen?“  Seine Familie sei mittlerweile in Mersin an der Mittelmeerküste angekommen, schaue sich dort nach Mietwohnungen um. Es sei nicht leicht, die Preise spielen verrückt.

Tatsächlich haben Abertausende Betroffene in Mersin Zuflucht gesucht. Die Stadt liegt in den Ausläufern der Erdbebenregion, war von den Erschütterungen ebenfalls betroffen, doch blieben großflächige Zerstörungen aus. Inzwischen platzt Mersin aus allen Nähten: Innerhalb von zehn Tagen sind mehr als 327.000 Menschen in die Stadt gekommen, twitterte jüngst Bürgermeister Vahap Seçer. „Ihr seid nicht allein“, schreibt er; und mit Blick auf die Immobilienbesitzer: „Vermietet zu normalen Preisen. Diese Katastrophe auszunutzen passt nicht zu uns.“

Im Burgenland will Demirkoca all diese Nachrichten verfolgen. Er erkundigt sich nach seiner Familie, sieht und hört die neusten Entwicklungen, doch meistens, sagt er, bricht er in der Mitte der Sendungen ab. Es überwältige ihn.

Tief getroffen. In den Räumen des österreichisch-türkischen Wirtschaftsforums in Wien – eine Initiative der Absolventen des St.-Georgs-Kollegs, der österreichischen Schule in Istanbul – herrscht geschäftiges Treiben. Ideen werden gewälzt, wie den Erdbebenopfern nachhaltig geholfen werden könnte. Ein Benefizabend ist in Planung. In den Büroräumen sitzt auch Maide Aktaş, die sagt, sie könne sich vorstellen, das Erlebte künstlerisch zu verarbeiten. Sie hatte auch die Idee, den nunmehr mittellosen Kindern in der Erdbebenregion Unterricht zu geben.

In jedem Fall wolle und könne sie nicht untätig bleiben. „Wenn Sie mich fragen“, sagt die Kunststudentin, „dann wurden die Menschen im Stich gelassen.“ Die Ausmaße  der nicht vorhandenen Sicherheitsvorkehrungen habe sie tief getroffen.

Am Tag des Erdbebens fluteten die Nachrichten auch Maide Aktaş’ Handy. Ein Erdbeben. In den ersten zehn Minuten habe sie noch gedacht, es werde wohl nicht so schlimm sein, erzählt sie. Die Katastrophe  sickerte erst langsam ein. Und dann erreichte  Familie Aktaş ihre Angehörigen in Kahramanmaraş nicht, just dort, wo das Epizentrum des Bebens lag. Bis der Anruf kam, vergingen vier Tage. Vier Tage, in denen Gerüchte, Vermutungen, zusammengewürfelte Aussagen der Nachbarn einmal das Schlimmste vermuten ließen, ein andermal Hoffnung machten. Es gelang zunächst nicht, Informationen aus den Krankenhäusern zu erlangen, und daher stützte man sich auf das, was die Straße erzählte. „Wir haben dann  eingesehen, dass uns das nicht weiterbringt. Dass uns das nur verrückt macht.“

Die Verwandte grub sich  selbst aus den Trümmern, ehe die Rettungskräfte kamen.

Ein Sohn des Hauses, der in der Nacht des Erdbebens außerhalb der Stadt war, machte sich sofort zu seiner Adresse auf, erzählt Aktaş. Was er sah, war ein Trümmerhaufen. Was er nicht sah, waren Helfer, die mit anpacken konnten, um seine Mutter und kleinen Geschwister zu retten. Später erfuhr Aktaş, dass ihre Verwandte sich selbst und die drei Kinder aus den  Trümmern grub. Auf halbem Wege, 20 Stunden später,  kamen schließlich die Rettungskräfte an. Verletzt und entkräftet wurden die vier geborgen; ein Trümmerteil hat das kleinste Kind, fünf Jahre alt, derart schwer am Kopf getroffen, dass es in der  Intensivstation behandelt werden muss. „Sie sind am Leben, das ist die große Erleichterung. So beruhigen wir uns“, sagt Aktaş.

Vier Tage dauerte es, bis die Verwandte die Bergung, die medizinische Versorgung und den Schock so weit hinter sich lassen konnte, um das Handy einzuschalten und die Angehörigen zu erreichen. Ihre Großfamilie war zu diesem  Zeitpunkt bereits so nervös, dass sie infrage stellten, ob es sich denn wirklich um die vermisste Person handle. „Ist sie es wirklich? Bist du dir ganz sicher?“, habe Aktaş ihre Schwester am Telefon gefragt. Man hinterfrage alles. Man hinterfrage seit dem Erdbeben wirklich alles.

AUF EINEN BLICK

ERDBEBEN

Songül Elmacı betreibt die Bäckerei „Etli Ekmek“ in Wien Favoriten (Laaer-Berg-Straße 8). Um ihre Angehörigen finanziell zu unterstützen, will sie alle Einnahmen vom Donnerstag, dem 23. Februar, spenden.

Wiener Klänge für Türkei&Syrien.

Im Wiener Theater Akzent wird am 4. März eine Benefizveranstaltung für die Betroffenen in der Türkei und Syrien stattfinden. Angekündigt haben sich mehr als zwei Dutzend Sänger und Künstler. Der Erlös des Abends kommt zur Gänze den Erdbebenopfern zugute.

(Artikel erschienen in: Die Presse – Sonntagsausgabe, 19. Februar 2023)